Die Verpflichtung des Arbeitgebers, den Behörden in einem frühen Stadium beabsichtigter Massenentlassungen Informationen darüber mitzuteilen, hat nicht den Zweck, den Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren.
Am 28. Januar 2020 wurde einem Arbeitnehmer, der seit 1981 bei der deutschen G GmbH beschäftigt war, mitgeteilt, dass sein Arbeitsvertrag gekündigt werde. Am 1. Oktober 2019 war nämlich das Insolvenzverfahren über das Vermögen der G GmbH eröffnet worden, und am 17. Januar 2020 war beschlossen worden, die Geschäftstätigkeit der G GmbH bis spätestens 30. April 2020 vollständig einzustellen und Massenentlassungen vorzunehmen.
Ebenfalls am 17. Januar 2020 wurde das Verfahren zur Konsultation des Betriebsrats in seiner Funktion als Arbeitnehmervertreter eingeleitet. Im Rahmen dieser Konsultation wurden dem Betriebsrat die in der Richtlinie über Massenentlassungen1 genannten Informationen mitgeteilt. Der zuständigen Behörde – der Agentur für Arbeit Osnabrück (Deutschland) – wurde jedoch keine Abschrift dieser schriftlichen Mitteilung zugeleitet.
Am 22. Januar 2020 erklärte der Betriebsrat, dass er keine Möglichkeit sehe, die beabsichtigten Entlassungen zu vermeiden. Am 23. Januar 2020 wurde der Entwurf der Massenentlassung der Agentur für Arbeit Osnabrück mitgeteilt. Anschließend beraumte sie Beratungstermine für die meisten der von den beabsichtigten Entlassungen betroffenen Arbeitnehmer an.
Im Rahmen einer Klage vor den deutschen Gerichten machte der betroffene Arbeitnehmer geltend, dass der zuständigen Agentur für Arbeit keine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat vom 17. Januar 2020 übermittelt worden sei, obwohl dies eine Voraussetzung für die Wirksamkeit der Entlassung darstelle.
Das in der Revisionsinstanz mit der Rechtssache befasste Bundesarbeitsgericht sieht in der unterbliebenen Übermittlung einen Verstoß gegen das deutsche Gesetz zur Umsetzung der Unionsrichtlinie in nationales Recht. Weder die Richtlinie noch das nationale Recht sehe jedoch eine ausdrückliche Sanktion für einen solchen Verstoß vor. Unter diesen Umständen äußert das Bundesarbeitsgericht Zweifel, ob der Verstoß zwangsläufig zur Nichtigkeit einer Kündigung führt. Für die Zwecke der von ihm vorzunehmenden Prüfung bedürfe der Klärung, ob die fragliche Vorschrift den Zweck habe, den Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren. Das Bundesarbeitsgericht hat daher beschlossen, hierzu den Gerichtshof zu befragen.
Mit seinem heutigen Urteil verneint der Gerichtshof dies: Die Verpflichtung des Arbeitgebers, der Massenentlassungen beabsichtigt, der zuständigen Behörde eine Abschrift zumindest bestimmter Bestandteile der schriftlichen Mitteilung, die er den Arbeitnehmervertretern für Konsultationszwecke zugeleitet hat, zu übermitteln, hat nicht den Zweck, den betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren.
Zum einen ermöglicht die Übermittlung der fraglichen Informationen es der zuständigen Behörde nämlich nur, sich u. a. über die Gründe der geplanten Entlassungen, die Zahl und die Kategorien der zu entlassenden Arbeitnehmer sowie den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen, einen Überblick zu verschaffen. Sie kann daher nicht voll und ganz auf die übermittelten Informationen vertrauen, um die bei einer Massenentlassung in ihre Zuständigkeit fallenden Maßnahmen vorzubereiten.
Zum anderen wird der zuständigen Behörde im Verfahren der Konsultation der Arbeitnehmervertreter keine aktive Rolle zugewiesen. Sie ist nämlich nur die Adressatin einer Abschrift bestimmter Bestandteile der fraglichen Mitteilung, im Gegensatz zu ihrer aktiven Rolle in späteren Abschnitten des Verfahrens. Im Übrigen setzt die fragliche Übermittlung weder eine vom Arbeitgeber einzuhaltende Frist in Gang, noch schafft sie eine Verpflichtung für die zuständige Behörde.
Daher erfolgt die Übermittlung nur zu Informations- und Vorbereitungszwecken, damit die zuständige Behörde gegebenenfalls ihre weiteren Befugnisse wirksam ausüben kann. Somit soll die Verpflichtung, Informationen zu übermitteln, es ihr ermöglichen, die negativen Folgen beabsichtigter Massenentlassungen so weit wie möglich abzuschätzen, damit sie, wenn ihr diese Entlassungen später angezeigt werden, in effizienter Weise nach Lösungen für die dadurch entstehenden Probleme suchen kann. In Anbetracht des Zwecks dieser Informationsübermittlung und der Tatsache, dass sie in einem Stadium erfolgt, in dem der Arbeitgeber die Massenentlassungen nur beabsichtigt, soll sich die zuständige Behörde nicht mit der individuellen Situation jedes einzelnen Arbeitnehmers befassen, sondern die beabsichtigten Massenentlassungen allgemein betrachten.
EuGH, Urteil vom 13. Juli 2023 – C-134/22 –
Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofs vom 13. Juli 2023